Schon lange fordert die Behindertenrechtsbewegung: “Nichts über uns, ohne uns!” Keine Entscheidung, die Menschen mit Behinderung betrifft, soll ohne ihre Mitsprache getroffen werden. Doch was kann „Nichts über uns, ohne uns!“ im digitalen Zeitalter bedeuten? Unter anderem sollten Menschen mit Behinderung in Entwicklungsprozesse von Produkten einbezogen sein, die sie nutzen. Solange dies keine Selbstverständlichkeit ist, verschenken wir enormes Potenzial zur inklusiven Gestaltung unserer Gesellschaft.

Diese Einbindung kann zum Beispiel durch Tests auf Benutzbarkeit erfolgen. Ein Produkt oder eine Webseite gelten als „benutzerfreundlich“ oder „usability-freundlich“, wenn sie für die Benutzer*innen leicht verständlich, effizient und angenehm zu verwenden sind. Bei einem Test auf Benutzbarkeit werden potenzielle Benutzer*innen bei der Lösung verschiedener Aufgaben mit dem Produkt beobachtet oder geben nach einer Erprobung ein Feedback. Solche Tests sind wichtig, weil Produktentwickler*innen oft eine andere Perspektive als Nutzer*innen haben.

Letztes Jahr führten das AWO-Projekt “DigiTeilhabe” und enna ein gemeinsames Modellprojekt zur Usability-Testung durch. Die AWO erschloss sich dabei das Thema Usability-Tests, die beteiligten Menschen mit Behinderung konnten ihr Expert*innenwissen einbringen und enna erhielt Hinweise zur Produktverbesserung aus den Tests.

Unsere Usability-Tests

Anfang 2023 trat der IT-Gerätehersteller enna an das AWO-Projekt “DigiTeilhabe” heran, um sein Produkt, das vor allem für Senior*innen entwickelt wurde, durch Menschen mit Behinderung testen zu lassen. Bei der AWO wurden sehr gute Erfahrungen bei der Einbindung von Projektteams aus Menschen mit Behinderung in die Entwicklung von Webseiten gemacht. Nun bot sich die Chance, diese Ansätze auf die Testung von technischen Geräten auszuweiten. Mit dem von der Stiftung Aktion Mensch geförderten Projekt möchte der AWO Bundesverband e.V. nämlich die Zugänge gerade von vulnerablen Zielgruppen zur digitalen Welt verbessern und Wege zu ihrer Mitgestaltung aufzeigen.

Foto des Produktes der Firma "enna": Tablett mit Dockingstation, bunt bedruckten NFC-Karten und einem Smartphone.
Eine enna Docking-Station, auf der ein Tablet liegt, und die enna Cards

Bei enna handelt es sich um ein Münchner Start-Up, das mit einem gleichnamigen Produkt digitalen Einsteiger*innen den Zugang zum Internet deutlich vereinfacht. Durch das Auflegen von bedruckten haptischen Karten auf eine Docking-Station können die Nutzer*innen das Tablet bedienen. Bei den enna Cards handelt es sich um NFC-Karten, die mit eindeutigen Befehlen versehen sind wie “Paul anrufen”, “Fotos von Julia” oder “Tagesschau”. Werden diese Karten auf das enna Dock aufgelegt, wird der Befehl auf dem Tablet sofort ausgeführt. Dank eines stark niederschwelligen, haptischen Bedienkonzepts ermöglicht enna seinen Nutzer*innen den Zugang zu digitalen Inhalten wie Kommunikation, Unterhaltung oder Unterstützung (Videotelefonie, digitale Fotoalben, YouTube-Videos, Podcasts etc.) ohne komplizierte Menüstrukturen.

Dank der Unterstützung einer ehrenamtlichen Usability-Expertin konnte das AWO-Projekt eigene Usability-Testverfahren für die Projektteams entwickeln. Über mehrere Monate wurden die zur Verfügung gestellten enna-Tablets mit zugehöriger Dockingstation in zwei AWO-Einrichtungen von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen getestet. Dabei kamen unterschiedliche Szenarien zur Anwendung. Zum Beispiel bekamen die Tester*innen konkrete Aufgaben, wie das Starten eines Videoanrufs oder der Bildergalerie. Zum Teil sollten sie das Gerät aber auch ohne Aufgabe und Einweisung erkunden. Neben der Sichtweise der Tester*innen auf die Benutzerfreundlichkeit war von Interesse, welcher Zeitraum benötigt wurde, eine Aufgabe zu bewältigen oder die Funktion des Gerätes zu erfassen. Dabei war besonders spannend zu erleben, wie intuitiv das Auflegen der NFC-Karten funktioniert. Die Tests wurden von Fachkräften beobachtet, dokumentiert und im Nachgang mit ausgewählten Tester*innen nachbesprochen. Eine weitere Dimension der Testung stellte die Erfahrung der Fachkräfte mit der Einrichtung des Produktes und der Bedienung des Backends dar.

Die Tester*innen fanden zahlreiche Verbesserungsmöglichkeiten: z.B.: größere Symbole auf den Karten, mehr Standfestigkeit des Docks, farbige Kennzeichnung von Anschlüssen und Kabeln, Schritt-für-Schritt-Anleitungen und Erklärvideos.

Fazit

Eine gute Usability ist gut für alle! Sie erleichtert es aber insbesondere Menschen mit Behinderungen, die gleichen Informationen und Dienstleistungen zu nutzen wie Menschen ohne Behinderungen. Mit dem Projekt haben wir einmal mehr demonstriert, dass die Durchführung von Usability-Tests in solchen Kooperationen für alle Beteiligten einen Gewinn darstellen können. Grundsätzlich sollten Usability-Tests viel häufiger genutzt werden, um die Bedarfe von Menschen mit Behinderung in der Technologieentwicklung angemessen zu berücksichtigen. Die AWO-Tester*innen hatten nicht nur viel Freude bei ihrer Arbeit, sie waren auch stolz, dass ihre Meinung zählt. Erfreulich ist außerdem, dass enna einen großen Teil der Vorschläge noch vor Ende der Kooperation in eine Überarbeitung ihres Produktes einfließen ließ. Eine Verbesserung wird damit nicht nur für die unmittelbar Beteiligten, sondern auch für weitere Nutzer*innen des Geräts erreicht. Diese positiven Auswirkungen sind für die AWO ein starkes Argument, das Thema „Usability-Testung“ weiterzuverfolgen.

Und auch für Unternehmen – und insbesondere für Startups – bieten kooperative Usability-Tests Chancen. Start-ups befinden sich meist noch am Anfang ihres Produktentwicklungsprozesses. Neue Produkte sollten dabei nicht nur innovativ sein, sondern vor allem auf die Bedürfnisse der Nutzer*innen angepasst werden. Die Tests können darüber hinaus dazu beitragen, die Benutzerfreundlichkeit des Produktes generell zu verbessern und damit zu einer gesteigerten Kund*innenzufriedenheit führen. Menschen mit Behinderung profitieren, weil ihre Sichtweise und ihre Bedarfe in die Entwicklung einfließen. Eine Professionalisierung von Usability-Tests bietet ferner die Chance auf neue Verdienstmöglichkeiten für diese Zielgruppe.

 

Dieser Artikel wurde gemeinsam verfasst von Franziska Gebhardt (enna) & Matthias Schug (AWO)